Interview mit Ralph Kessler
Faltungshall, akustisches Wohlbefinden und akustisches Holodeck
Ralph Kessler aus Hamburg dürfte den meisten sowohl als Tonschaffender als auch als Entwickler ein Begriff sein. Seine Produkte vermarktet er über seine Firma PINGUIN. Aktuell engagiert er sich auch bei der neu gegründeten AES Sektion Germany.
Mit dem Roomenizer macht er seine Faltungshall-Technologie, die er über Jahre verfeinert hat, über ein Plug-In verfügbar. Wir haben mit Ihm ein ausführliches Interview geführt, dass einen tiefen Einblick hinter die Kulissen bietet - rund um das Thema Faltungshall, akustisches Wohlbefinden und Akustisches Holodeck ...
proaudio.de: Ralph Du bist ja schon sehr lange im Proaudio-Sektor tätig und zwar sowohl als Tonschaffender im Bereich der Musikproduktion als auch als Entwickler. Wenn ich das mal so sagen darf gibt es aus meiner Sicht dabei einige Lieblingsschwerpunkte in Deiner Arbeit, die da wären: Lautheit und Metering, 3D-Audio und Mehrkanal-fähige Raumsimulationen.
Ralph Kessler: Tatsächlich war die Musikproduktion, insbesondere die Schaffung von hochwertigen, authentischen Konzertaufzeichnungen für CD, DVD und später BluRay, einer meiner Favoriten in den letzten 20er-Jahren. Besonders die internationale Arbeit mit Kunden aus dem Libanon und Armenien, wie zum Beispiel Fairouz, Ziad Rahbani oder KOHAR Symphony Orchestra & Choir hat mir großen Spaß gemacht und einzigartige Erfahrungen durch weltweite Tourneen und ausgiebige Postproduktion ermöglicht. Ich konnte durch diese praktische Arbeit seit jeher wichtige Inspirationen gewinnen für meinen Zweitberuf Entwicklungsingenieur. In diesem arbeitete ich einerseits für meine eigene Marke Pinguin andererseits als freier R&D Projektmanager und Technologielieferant für andere Marken wie zum Beispiel Leapwing, AuroTechnologies, EastWest Virtual Instruments, Weiss Engineering, Wwise oder Eventide. Die Arbeit in Standardgremien der EBU (PLOUD), der ITU und der AES bezüglich Lautheit u.a. Meßmethodiken darf in der Liste auch nicht fehlen.
Wenn ich allerdings nur einen einzigen Lieblingschwerpunkt meines wissenschaftlichen Schaffens nennen dürfte, wäre es - ohne viel Zögern - die technische Erzeugung von "künstlichem" Hall, möglichst nahe an der akustischen Realität und die - im besten Falle - daraus erfolgende Erzeugung von Gänsehauteffekten, heute auch gerne benannt als "Virtuelle Akustik". Diese Leidenschaft ging schon vor über 40 Jahren los, als ich als junger Student der Elektrotechnik in den damals bei Jazzgrößen beliebten Tonstudio Zuckerfabrik mehrere Praktika machen konnte. Dort konnte ich 1982 den Zuspielton einer eigenen Multimediaproduktion im damals neuen Format Quadrofonie für eine Live Performance vorbereiten. Und einer der Schlüssel für Gänsehaut war dort der vierkanalige Quantec Raumsimulator. Der Sound hat mich umgehauen. Die Methode wie man diesen Sound erzeugt: absolutes Betriebsgeheimnis einer Handvoll Hersteller, meist einzelgängerischer Audionerds, die man nur mal kurz auf einer internationalen AES Convention trifft, wenn man Glück hat. Nichts davon war in irgendwelchen Büchern.
Der Zufall wollte es, dass ich circa vier Jahre später als Projektleiter der R&D Abteilung bei Wolfgang Schwarz in München das Abschluss-Tuning aller Effekt-Presets übernehmen durfte und den eigenhändig gefädelten Prototypen des QRS XL auf der Tonmeistertagung im deutschen Museum am Stand mit präsentieren durfte. Internationalen Erfolg hatten wir zum Teil durch direkte Kontakte mit Künstlern wie Peter Gabriel, Prince, Frank Zappa, Stevie Wonder und anderen.
Einige davon, wie zum Beispiel Kate Bush, schrieben uns sogar, wie sehr unser Gerät ihre Arbeit inspiriert hat. Als wir schließlich Anfang der 90'er Jahre die Firma Pinguin gründeten hatte ich diese Leidenschaft für Hall neben anderen psychoakustischen Projekten nicht verloren und weiter nach Methoden gesucht, die Natürlichkeit dieses damals algorithmisch erzeugten Halls zu verbessern. Gestützt durch mehrere wissenschaftliche Analysen teilweise in Zusammenarbeit mit Unis und deren gleichgesinnten Studenten haben wir durch mehrkanalige Schallfeldanalysen die Akustik der besten Konzerthäuser und Kirchen, in die wir in Norddeutschland gelangen konnten, unter die Lupe genommen und mittels des aus der digitalen Signaltheorie kommenden Methode der eins zu eins in einem Mehrkanal-Lautsprechersetup nachgestellt. 2004 in Barcelona ist ein entsprechendes AES Paper mit Details veröffentlich worden. Bis zu dem Zeitpunkt war alles noch im Format 5.1 aber die Messungen waren so vielfältig (ca. 150 Faltungen/Kanäle pro Raum), dass man flexibel für eine weitere Dimension in dieser Datenbank war. Mit Wizoo fanden wir 2005 unseren ersten prominenten Partner für die Technologie. Sie gehörten mit dem Wizooverb W5 zu den Pionieren der mehrkanaligen Hybrid-Hallerzeugung auf PCs, das heisst algorithmisch und echte fünfkanal Faltung in einem PlugIn. Das war ein wirklich sehr innovativer Ansatz.
Mit gestiegener Rechenleistung wurde plötzlich durch Zero-Latency und mehrkanaliger Faltung auch eine völlig andere Anwendung möglich: Hallzeitverlängerungssysteme in Mehrzweckauditorien. Auch prinzipiell schon bekannt und zum Beispiel von Philips patentiert in den 60er-Jahren wurden sie so richtig kommerziell erst 30 Jahre später, unter anderem durch das algorithmische LARES oder Mueller BBMs / Stagetec's System VIVACE, die auch ein paar Räume von Pinguin lizenziert haben und intern Faltungshall benutzen.
Schon 2006 habe ich zwecks mobiler Auralisierungs-Demos ein akustisches "Holodeck" konstruiert und mit einer neuen Ebene Höhenlautsprechern experimentiert. Eine Art Zelt bestehend aus Alutraversen und einem blauen Akustikvorhang, mit dem wir vor einer Dekade wie fahrendes Volk auf diversen Fachmessen wie Musikmesse und IBC internationale Verwertungspartner unserer Forschungen gesucht haben. Dieses "Holodeck" dient mir heute noch gut als 3D Labor für End-Tunings, QA, Lautsprecher-basiertes 3D-Audio-Mastering und Algorithmen-Entwicklungen in Hamburg.
Aktuell - neben meiner neuen Tätigkeit als Schatzmeister der neuen AES GERMANY eV iG - versuche ich eine HDIR Community mit gleichgesinnten Toningenieuren aufzubauen, damit die HDIR Bibliothek virtueller Akustiken im 3D-Format weiter mit internationalen Akustiken wächst und wiederum dieser Community zur Verfügung steht. Auch interessiere ich mich schon länger für das optimale "akustische Wohlbefinden" und entwickle architektonische Bauelemente zur Steigerung desgleichen.
proaudio.de: Bei Deinem Roomenizer Faltungshall, den wir bei proaudio.de auch in Kürze vorstellen werden, ist auch ein Mehrkanal-Sample-Player integriert, um Umweltgeräusche zuzuspielen und Maskierung durchzuführen. Kannst Du uns dazu etwas sagen?
Ralph Kessler: Die drei verschiedenen Simulation Engines, die dem Roomenizer Plug-In zugrunde liegen, sind schon seit 20 Jahren Bestandteil unserer internen Labor-Tools, die ich einerseits dazu benutze, unsere Bibliothek an hochauflösenden, akustischen Fingerabdrücken an interessierte OEM Partner zu verkaufen. Anderseits machte sich das Tool tatsächlich auch in unserem Masterstudio oft nützlich, um die Qualität von gemasterter Stereo-Musik in beliebigen akustischen Wiedergabesituationen zu testen, ohne das Studio zu verlassen. Zum Beispiel ein lautes Restaurant mit miserabler Akustik oder auch einfach mein Auto bei hohen Drehzahlen maskiert mit Motor und Windgeräuschen. Der Player dient hier also der Zuspielung einer Geräuschsloop in 3D Audio. Eine akustische Störgeräusch-Maskierung ist natürlich eine Challenge für jeden Musik-Mix und der Sample-Player hilft enorm verschiedene Wiedergabesituationen zu emulieren, auf Wunsch mit Hilfe einer extrem natürlichen 3D-Lautsprecher-Wiedergabe.
Eine zweite Anwendung des Players ist das – wie ich es bezeichne - „akustisches Dithering“. Jedes digitale Hallgerät, vor allem Convolution basierte – haben im Ausklang naturbedingt immer Artefakte und teilweise hörbare Verzerrungen. Wenn man nun ein sehr kleines, kaum hörbares braunes Rauschen hinzufügt, erreicht man eine neue Dimension der Natürlichkeit. So wie es in der Natur auch keine hundertprozentige Stille gibt, wird hier simuliert, dass der Ausklang in einer Art Rauschen verschwindet, bevor Artefakte im Ausklang zu Tage treten.
proaudio.de: Es gibt in diesem Zusammenhang auch eine Kooperation mit dem Sample-Bibliotheks-Anbieter „The Purist Library“. Wie kam es dazu?
Ralph Kessler: Das kam durch die Idee einer dritten Anwendung des 3D-Players im Roomenizer. In Live Klang- oder Video-Installationen oder auch im Film-Postpro-Bereich, braucht man manchmal natürlich klingende Atmo Loops im Hintergrund. Und die an der Filmakademie Ludwigsburg ausgebildeten O-Tonmeister der ThePuristLibrary haben sich fokusiert, Tonaufnahmen von sehr hochwertigen, extrem natürlich klingenden Atmos zu produzieren und dies mit Hilfe von selbstgebauten mobilen „wide spaced microfone arrays“. Das passte vom Qualitätsanspruch perfekt und wir haben ein Lizenzabkommen abgeschlossen.
proaudio.de: Erzähl doch einmal etwas über die Entwicklungsgeschichte des Roomenizers. Dieses Produkt war ja nicht von Anfang an ein Produkt für jeden.
Ralph Kessler: Wie oben ja schon erwähnt, waren die einzelnen Simulations-Engines in unserem Labor schon seit den 90er-Jahren fertig. Allerdings hat unsere Marke PINGUIN ja nie am Endkundenmarkt eigene Nachhall-Prozessoren angeboten, sondern wir haben andere Hersteller beraten und Technologie, wie auch Bibliotheken hochwertiger akustischer Fingerabdrücke, an andere Hersteller geliefert.
Der erste bedeutende Verkaufserfolg unserer hochmusikalischen "akustischen Fingerabdrücke" stellte sich kurz danach ein. Die Bremer Firma Wizoo, gegründet von Peter Gorges, Manfred Rürup und Hans Zimmer wurde auf eines unserer Demovideos aufmerksam und lizenzierte unsere Bibliothek für mindestens fünf Jahre zur exklusiven Nutzung in deren eigenes PlugIn WizooVerb W2 und W5, des erste fünfkanalige Faltungshall Plug-In. Peter berichtete, dass Hans Zimmer zum Beispiel seine Kauf-Entscheidung unmittelbar nach Anhörens unseres Demo-Video getroffen hat. Matthias Klag, Wizoos damaliger Sounddesigner und Konzeptionist der W2/W5 Plug-Ins, hat es geschafft, eine vernünftig zu bedienende Hybridlösung aus algorithmischem und Faltungshall erstmalig zu implementieren.
Zwei Jahre nach dem Verkauf von wizoo an Digidesign im Jahr 2007, lief der Vertrag aus und unsere Bibliothek wurde frei für weitere interessierte OEMs wie Audiokinetics Wwise, SIRaudiotools, EastWest Virtual Instruments, die unsere HDIRs (High Definition Impulse Responses) alle heute noch benutzen und promoten.
proaudio.de: Man kann sich auch selber eine PIR für einen Raum erzeugen lassen. Wie funktioniert das und was kostet denn so ein doch sehr individueller Service?
Ralph Kessler: Das variiert stark nach unserem Aufwand. Wenn jemand eine AURO-3D oder Dolby Atmos taugliche Wide Spaced 9.1.6 Mikrofonierung und 18 Lautsprecherpositionen einmisst, ist dass ein anderer Aufwand, als 2 in 5 oder 1 in 2. Meine Postproduktion kann tatsächlich bis zu einer Woche dauern, bis ich vom Tuning her glücklich bin. Ich werfe dennoch mal so eine Zahl ab 1.500 Euro in den Raum, wo jemand ein für ihn exklusives 3D-Custom-Raummodel für den Roomenizer erhält. Ich muss auch bei der Aufnahme nicht persönlich anwesend sein. Ein guter Tonmeister, gutes Equipment und ein Remote-Briefing meinerseits genügt in den meisten Fällen. Wir haben so bereits für einige Partner sehr gute Ergebnisse erzielt. Für diejenigen Anwender, die einen akustisch interessanten Raum zur beschränkten Verfügung haben, den gerne im Roomenizer IMMER parat hätten aber nicht genug Budget um einen exklusives Model von uns erstellen zu lassen, haben wir unser "HDIR Community" Programm im Angebot. Unter voriger Absprache und kostengünstiger Beratung und Postproduktion von uns kann man einen selbst gesampelten Raum in die "Roomenizer Gemeinschaft" einstellen.
proaudio.de: Die Güte von Raum-Impulsantworten hängt ja doch sehr vom Erfassungsprozess aber auch vom Post-Processing ab. Wie kann man sich das vorstellen, welche Software nutzt Du dafür und welche Rolle spielt da die Erfahrung und warum überhaupt ein Post-Processing wenn man doch den Raum so natürlich wie möglich haben möchte.
Ralph Kessler: Also ich nutze mittlerweile diverse Werkzeuge. Das Kern-Tool ist mein eigener „HDIR Creator“. Mit dem kann ich die gesamte Kette bearbeiten: Recording, klangtechnisch bearbeiten, editieren, exportieren, logistisch einordnen. Ein einziges Projekt kann 3D-Klangfelder bestehend aus bis zu 288 Einzel-Wave-Dateien verwalten. Da ich das jetzt schon über 30 Jahre mache, kann ich sagen: ja Erfahrung hilft. Vor allem wenn Du noch einen Hintergrund im musikalischen Bereich der algorithmischen Hallerzeugung mitbringst kannst Du im Tuning quasi durch „akustisches photoshopping“, tonal unglaubliche Dinge anstellen.
Angetrieben bin ich durch mein ewiges Dauer-Ziel, „akustisches Wohlbefinden“ beim Erlebnis Musikhören herzustellen. Mich interessieren Fragen wie: welche Early Reflections tun jetzt dieser Musik-Performance gut und welche nicht. Eine manuelle HDIR-Postproduktion kann all das beeinflussen. Auch das Zusammenspiel der Raum-Moden und akustischen Resonanzeffekte mit der jeweils dargebotenen Musik sind immer noch spannende und teilweise ungeklärte Fragen.
proaudio.de: Danke Ralph für das interessante Interview. Dein Pinguin Roomenizer Plug-In werden wir in einem Test genauer vorstellen.