An den Grenzen des physikalisch Möglichen
Interview mit Gerrit Buhe von Sennheiser
Gerrit Buhe, Development Electronics & Signal Processing
Herr Buhe, in Digital 9000 stecken rund zehn Jahre Entwicklungsarbeit. Was war rückblickend die größte Herausforderung?
Die größte Herausforderung war zugleich eine beständige: Um ein Funkmikrofonsystem mit digitaler Übertragung und wirklich herausragenden Audioeigenschaften zu entwickeln, mussten wir uns dicht an den Grenzen des physikalisch Möglichen bewegen. Und an diesen physikalischen Grenzen explodiert der technische Aufwand förmlich. An vielen Stellen sind wir sehr tief ins Detail gegangen und haben viele kleine Lösungen erarbeitet, die es uns ermöglicht haben, den Audiodaten immer wieder noch mehr Datenrate zu ‚spendieren' als das üblicherweise der Fall ist.
Unsere analoge Drahtlostechnik wird für Veranstaltungen und Projekte mit teils sehr hohen Kanalzahlen genutzt – und dem sollte auch unser digitales Drahtlossystem in nichts nachstehen. Deshalb müssen wir uns im UHF-Bereich bewegen, denn nur hier sind heute große Multikanal-Installationen möglich. Um in diesem Bereich überhaupt zugelassen zu werden, darf die Funkstrecke eine bestimmte Kanalbandbreite nicht überschreiten. Das begrenzt die übertragbare Datenrate. Zudem braucht man für eine hohe Datenrate einen guten Signal-Rauschabstand in der Funkübertragung. Dieser Zusammenhang gehorcht der Physik und ist nicht auszuhebeln. Unser Fokus lag also darauf, im UHF-Bereich die höchstmögliche zuverlässig übertragbare Datenrate und damit die optimale Audioqualität mit hoher Dynamik zu realisieren. Das haben wir zum einen durch Anpassung modernster frequenzeffizienter Modulationsverfahren an unsere konkreten Anforderungen erreicht; zum anderen haben wir viele ausgefeilte Extras entwickelt, mit denen wir den Anteil der Nicht-Audiodaten gering halten konnten.
Haben Sie und Ihr Team damit das perfekte digitale Drahtlosmikrofon entwickelt?
Das perfekte digitale Drahtlosmikrofon gibt es nicht, aber wir sind nah dran. Nein, ernsthaft, es gibt nicht das perfekte Mikrofon für alle Anwendungsfälle, denn wegen der physikalischen Einschränkungen, die ich eingangs erwähnte, muss ein digitales Drahtlosmikrofon immer sinnvolle Kompromisse eingehen, zum Beispiel bei der Betriebszeit, der Größe oder der Reichweite. Unser System bietet dem Kunden allerdings zwei Modi und deckt damit eine große Bandbreite an Anwendungen und Szenarien ab. Ich denke, dass noch nie eine so hohe Audioqualität im UHF-Bereich übertragen wurde wie mit Digital 9000.
Welche beiden Modi bietet das System?
Den High-Definition-Modus und den Long-Range-Modus. Der High-Definition-Modus bietet eine kompromisslose Tonqualität, da das Audiosignal nicht, wie sonst üblich, komprimiert wird. Man erhält eine Tonqualität, die dem eines drahtgebundenen Mikrofons entspricht, und das eröffnet Digital 9000 neue Anwendungsbereiche. Bislang waren zum Beispiel für anspruchsvolle Jazzkonzerte nur kabelgebundene Mikrofone im Einsatz, da für diese Art von Musik die zur Rauschunterdrückung verwendeten Kompander eines analogen Funksystems ungünstig waren. Mit Digital 9000 fällt nicht nur der Kompander weg, das Audiosignal wird zudem noch ohne Datenkompression, also in seiner ganzen ‚Datenfülle', übertragen. An einen unkomprimierten Modus hat sich bislang noch kein anderer Hersteller herangetraut.
Der Long-Range-Modus ist unser ‚Arbeitspferd' für alle kritischen Situationen. Er bietet eine hohe Robustheit für harte HF-Szenarien mit vielen Störeinflüssen. Der Modus nutzt unseren eigenen Sennheiser Digital Audio Codec (SeDAC), auf den wir stolz sind, denn auch hier ist die Audioqualität herausragend.
Was ist das Besondere an diesem Codec?
Mit diesem Codec ist der Long-Range-Modus so robust wie eine herkömmliche analoge FM-Übertragung, liefert aber eine bessere Audioqualität. Wie viele Komponenten des Systems Digital 9000 hat auch dieser Audio-Codec seine eigene Geschichte, die ganz ‚normal' beginnt, nämlich damit, dass wir uns alle auf dem Markt befindlichen Codecs angeschaut haben. Wir mussten allerdings feststellen, dass sie unsere Anforderungen im Hinblick auf Latenz, Dynamik, Freiheit von Artefakten usw. nicht erfüllten. Daraufhin folgte eine lange Phase der intensiven Zusammenarbeit mit Universitäten und Koryphäen auf diesem Gebiet, wie zum Beispiel Prof. Zölzer von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Der entscheidende Durchbruch gelang uns zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht, doch es waren wichtige Teillösungen geschaffen worden und wir hatten so viel Erfahrung in der Audiodatenkompression gewonnen, dass wir beschlossen, allein an einem Codec weiterzutüfteln. Und das Durchhaltevermögen hat sich gelohnt: Die Audioqualität des SeDAC ist sehr, sehr hoch, und er läuft auch unter Fehlereinflüssen stabil. Das ist für die digitale Übertragung unendlich wichtig, denn hier fehlt die ‚Gutmütigkeit' eines analogen Systems. Um auch dem digitalen System eine gewisse Gutmütigkeit mitzugeben, wurde der Codec um eine spezielle Fehlerverschleierung ergänzt, eine Kombination aus einem eigenen und einem von Prof. Zölzer entwickelten Verfahren. Diese Fehlerverschleierung stellt sicher, dass die Audioübertragung auch noch in Grenzbereichen der Ausleuchtungsfläche möglichst robust arbeitet – damit Digital 9000 länger besser funktioniert als andere Systeme.
Wo ist ein analoges System gutmütig und wie funktioniert die Fehlerverschleierung?
Ein Beispiel für Gutmütigkeit ist das Verhalten bei einem Feldstärkeloch. So ein Einbruch des Empfangssignals durch fast immer vorhandene Mehrwegeausbreitung lässt bei einem analogen System den Signal-/Rauschabstand des Audiosignals proportional absinken, was jedoch aus psychoakustischen Gründen meist ohne große Folgen bleibt. Bei einem digitalen System ist großer Aufwand in intelligente Diversity- und Fehlerkorrekturverfahren bis hin zur Fehlerverschleierung zu stecken, um Aussetzer im Datenstrom oder sogar im Audiosignal zu vermeiden.
Für die Fehlerverschleierung haben wir sozusagen menschliches Verhalten in Algorithmen gefasst. Im System laufen unterschiedliche feste und ein adaptiver Prädiktor mit, die jeweils erraten, wie das nächste Sample wohl aussehen wird. Für jede richtige Antwort erhalten die Prädiktoren Punkte, und sollten durch eine Störung des Signals Audiodaten fehlen, so darf der Prädiktor, der bislang am erfolgreichsten vorhersagen konnte, das Audiosignal reparieren. Diese Fehler liegen deutlich unter einer Millisekunde; bei längeren Fehlern im Audiosignal prüft ein weiteres Verfahren, ob sich eine Reparatur lohnt oder ob das System sanft muten soll. Das alles muss ohne zusätzliche Verzögerung erfolgen, was eine der besonderen Herausforderungen war.
Beim System Digital 9000 ist keine Intermodulationsberechnung mehr erforderlich. Warum?
Digital 9000 ist nicht nur im digitalen Bereich ein Meilenstein, auch die komplette Hochfrequenztechnik wurde ‚neu gedacht'. Das System ist so sorgfältig mit höchster Linearität in allen Stufen aufgebaut, dass zum Beispiel die üblichen starken Intermodulationen zwischen zwei nahen Funkmikrofonen der Vergangenheit angehören. Wegen der eingesetzten digitalen Modulation müssen insbesondere die Senderendstufen linear arbeiten, da sonst die vielen verschiedenen Amplituden- und Phasenzustände, in denen die Bits transportiert werden, nicht mehr unterschieden werden können. Diese Linearität reduziert zwar den Wirkungsgrad und damit die Betriebszeit des Senders, hat neben der geringen Modulationsverzerrung aber den zusätzlichen Vorteil der starken Intermodulationsunterdrückung. Zudem sind die Sender mit Isolatoren bestückt, die das HF-Signal nur in ‚Senderichtung' durchlassen; eintretende HF-Signale werden über eine Senke ‚unschädlich' gemacht.
Macht digital alles einfacher?
Ich würde eher sagen, dass digital eines der modernen Zauberwörter ist, die Dinge einfach erscheinen lassen, die in Wirklichkeit aber auf hochkomplizierten inneren Abläufen basieren oder diese nötig machen. Eine Herausforderung ist zum Beispiel die Robustheit der Übertragung. Die meisten der üblichen Verfahren für eine robuste Datenübertragung können nicht für Mikrofone genutzt werden, denn sie würden die Latenz des Systems in die Höhe treiben. Der Künstler, der sich ja gleichzeitig immer auch über Monitor hört, würde zwar noch lange kein Echo wahrnehmen, aber schon ab zehn Millisekunden Verzögerung treten Klangverfärbungen durch Phasenaus-löschungen bei bestimmten Audiofrequenzen auf (Kammfiltereffekt), die sehr störend sind.
Wenn die üblichen Verfahren nicht nutzbar sind, wie stellt das System dann die robuste Übertragung und den Fehlerschutz sicher?
Zu den von uns patentierten Lösungen zählt unter anderem eine so genannte relevanzangepasste Kanalcodierung. Da wir einen optimalen Fehlerschutz haben wollen, dafür aber nur eine möglichst geringe Datenrate aufwenden möchten – denn das ginge ja wieder vom ‚Platz' für die Audiodaten ab – sind die übertragenen Bits nach Wichtigkeit bewertet und in Gruppen aufgeteilt. Da gibt es die so genannten least significant bits, bei denen ein eventueller Fehler kaum Auswirkungen hat. Dort reicht ein geringer Fehlerschutz vollkommen aus. Bei den höher bewerteten, wichtigeren Bits nimmt der Fehlerschutz dann zu. Je mehr Störenergie ein potentieller Fehler erzeugen würde, desto höher wird die Sicherheit gefahren.
Verhält sich denn eine digitale Übertragungsstrecke anders als eine analoge?
Die Physik der HF-Ausbreitung ist natürlich identisch, aber während jahrzehntelange praktische Erfahrung mit analogen FM-Strecken vorliegt, hatte sich bis dahin niemand theoretisch mit der Modellierung der für uns relevanten Ausbreitungs¬bedingungen auseinandergesetzt. Für den Mobilfunk gibt es solche Informationen seit langem, ich kann mir zum Beispiel das Kanalmodel für eine Übertragung in hügeligem Gelände bei einer Bewegungsgeschwindigkeit von 50 km/h abrufen und viele Profile mehr. Für unsere Anwendungsfälle mussten wir diese Daten aber erst sammeln. Wir haben uns also die Hallen und Veranstaltungsorte dieser Welt angeschaut, gemessen, wie z.B. die Verzerrungen dort aussehen, überlegt, wie man die beheben würde und so weiter. Wir haben dann diese Ausbreitungskanäle modelliert, um die Algorithmen unserer Übertragungsverfahren zu optimieren. Algorithmen, die zum Beispiel für die Entzerrung zuständig sind oder das Diversity-Verfahren.
Stichwort Diversity: Der Empfänger läuft mit True-Bit Diversity. Was ist der Unterschied zu True Diversity?
Bei der Funkübertragung kann es im Zuge der Mehrwegeausbreitung – also bei Reflexionen an Wänden, Aufbauten oder Gegenständen – ortsabhängig zu besonders tiefen HF-Auslöschungen kommen. Daher setzen wir zwei Antennen und vollständige Empfangspfade ein und demodulieren jeweils bis auf die Bit-Ebene. Zusätzlich wird die Zuverlässigkeit jedes demodulierten Bits pro Pfad ermittelt. Während ein herkömmliches True-Diversity-System nur nach der Stärke des empfangenen Signals entscheidet, wertet Digital 9000 die Qualität jedes einzelnen Bits aus und kombiniert die Bits beider Empfangspfade inklusive ihrer Wahrscheinlichkeitsinformation, woraus die Fehlererkennung und -korrektur zusätzlichen Gewinn zieht. Es können also mehr Fehler korrigiert werden. Auch beim Diversity wird also ein erheblicher Mehraufwand betrieben, und all diese intelligenten Einzellösungen fügen sich zu einem perfekt durchdachten Ganzen zusammen – zu einem System, das die digitale Funktechnik voranbringt.